Neugierde – der zu wenig beachtete Treiber für Kreativität und Einfallsreichtum

Von Gastautor Michael Kuehl-Lenjer

»Es gibt für mich nur eine Qualität, die mich weiterbringt, und das ist die Neugier.«

Daniel Barenboim (*1942), argentinisch-israelischer Pianist und Dirigent

Alle Menschen kommen neugierig zur Welt. Kinder erkunden ihre Umwelt, sind lern- und wissbegierig und hungrig nach Neuem. Kinder spielen leidenschaftlich gerne. Sie wiederholen Bekanntes, ahmen es nach und erfinden Neues. Kinder sind gleichermaßen fasziniert von vertrauten und ungewöhnlichen Dingen. Das eine ist bekannt und gefahrlos und verleiht Sicherheit und Halt. Das andere, das unbekannte Neue, befriedigt das unbändige Verlangen nach Wissen. Zum Entdecken oder Spielen müssen wir Kinder nicht motivieren. Spielen ist wie alle kreativen Aktivitäten »intrinsische Lust, reines Vergnügen« (Sacks 2017).

Kreativität und Souveränität brauchen Neugier

Neugier ist stammesgeschichtlich betrachtet tief in unserem Leben verwurzelt. Das Verlangen, etwas Neues kennenzulernen, war immer die Triebfeder für außergewöhnliche Leistungen und ist eine besondere Voraussetzung für geistige Schaffenskraft. Neugier ist Wissensdurst gepaart mit der Bereitschaft, Neues zu entdecken, sich bewusst ungewohnten Situationen auszuset-zen und seine Denkweise in eine andere Richtung zu lenken. Neugier ist die Grundvoraussetzung für Entdeckungen.

Neugierige sind keine Schnüffler, die in den dunklen Ecken ihrer Mitmenschen stöbern, sondern Menschen, die gerne tüfteln, wissensdurstig sind und ausgetrampelte Denkpfade verlassen.

In jedem von uns steckt schöpferisches Potenzial

Wer aktiv nach einer Lösung sucht, ist neugierig. Deshalb sind Tutorials so beliebt, nicht weil sie Wissen vermitteln, sondern weil man nach der Lösung eines Problems sucht. Man erzeugt Neugier, indem man Informationen zurückhält und ein Geheimnis schafft. Im Marketing gehört es zu den wichtigsten Grundprinzipien, Informationen zurückzuhalten: Im September kommt das nächste große Ding! Seien Sie gespannt!

In jedem von uns steckt ein schöpferisches Potenzial. Eine große Portion an Neugier ist der Wegbereiter für Kreativität. Heutzutage wollen alle kreativ sein. Viele müssen es sogar, denn Fachwissen reicht nicht aus, um im Beruf zu bestehen. Von daher erwarten zahlreiche Unternehmen, dass Bewerber auch Einfallsreichtum, Kreativität und Schöpfergeist mitbringen.

Kreativität auf Knopfdruck? Gibt es nicht. Eine Faustregel für Geistesblitze? Existiert nicht. Den idealen Weg zu mehr kreativen Ideen? Kennt niemand.

Wir haben jedoch erlebt, dass in Phasen des gehetzten, routinierten und effizienzgetriebenen Arbeitens nicht unbedingt neue Ideen sprießen. Wir benötigen Muße und Tagträume, um auf neue Geistesblitze zu kommen. Das Ruhenetzwerk unseres Gehirns ist ein Zustand hoher Kreativität. Tagträume erleichtern kreatives Assoziieren und unterstützen uns, originelle Ideen zu entwickeln. Wenn ich in meinen Seminaren danach frage, wann die besten Ideen sprudeln, antworten viele: beim Duschen, beim Joggen und wenn wir einem Tagtraum nachhängen. Eine gute geistige Idee ist, wenn sie eine Lösung darstellt oder etwas verändert!

Druck und Stress töten Kreativität

Stellen Sie sich einmal vor, Sie sitzen entspannt an Ihrem Schreibtisch oder auf der Couch und sollen innerhalb von drei Minuten etwas völlig Neues zu einem Thema finden. Das wird nicht funktionieren, denn es ist völlig unmöglich, unter Zeitdruck etwas Neues zu kreieren. Kreativität entsteht nicht im Auf-die-Plätze-fertig-los-Modus. Unter Druck scheint unser Ideenspeicher seine Schätze nicht preisgeben zu können. Stress steht der Kreativität häufig im Weg, wir fühlen uns bedrängt. Von Federico Fellini stammt der Satz: »Kreativität ist Intelligenz, die Spaß hat.« Und Stress und Druck bereiten keinen Spaß. Die Amygdala (Gefahrenriecher) springt bei negativen Emotionen an, das Stress-System des Körpers wird eingeschaltet und sorgt dafür, dass Unmengen Cortisol in den Blutkreislauf gelangen. Dieses Hormon signalisiert: »Achtung, Gefahr droht!« und versetzt den Organismus in einen Kampf- oder Fluchtzustand. Dass in dieser Situation der schöpferische Funke nicht zündet, ist nicht verwunderlich. Umgekehrt wird Kreativität gedrosselt, wenn wir etwa dreißig Minuten lang Geistesblitze entwickeln sollen. Kein Ideenfluss hält so lange an.

Der mentale Wiederkäuer in uns behindert geistige Offenheit

Natürlich können wir nicht unentwegt kreativ sein. Um unseren Alltag zu bewältigen, greifen wir zurück auf Routine, Angewohnheiten und gelernte Abläufe. Das spart eine Menge Energie. Wenn wir gestresst sind, betätigen wir uns als mentale Wiederkäuer, wir wälzen immer wieder die gleichen Gedanken und können uns schwer auf etwas Neues einstellen.

Sollten Ihnen einmal partout keine passenden Geistesblitze einfallen, hat es keinen Sinn, eine Lösung zu erzwingen. Arbeiten Sie an einer anderen Aufgabe oder machen Sie in der Mittagspause einen Spaziergang im Park. Um die geistige Schaffenskraft in Schwung zu bringen, könnten auch sportliche Aktivitäten geeignet sein. Studien haben gezeigt, dass Laufen unserer Kreativität Beine macht. Machen Sie es, wie Theodor Fontane schrieb: »Ruhe, Stille, Sofa und eine Tasse Tee geht über alles.«

Geistesblitze und sprudelnde Ideen sind der wichtigste Faktor für ökonomischen Erfolg – das jedenfalls ist, so das Ergebnis einer IBM-Studie, die Einschätzung von tausendfünfhundert Firmenchefs aus sechzig Ländern. Unternehmen, die nicht innovativ sind, verspielen ihre Zukunft. Kreative Leistungen und zündende Ideen zeigen insbesondere jene Menschen, die auf einen umfassenden, auch gegensätzlichen Erfahrungsschatz blicken und von daher auf Alternativen bei der Bewältigung von Herausforderungen gepolt sind.

Kreativität, also die Fähigkeit, Probleme durch schöpferische Ansätze zu lösen, ist in jedem Gehirn angelegt. Unsere Persönlichkeit ist das Ergebnis aus genetischer Veranlagung, vorgeburtlicher und frühkindlicher Prägung und die Summe unserer Erlebnisse und Erfahrungen. Es gibt keine Hinweise auf genetische Dispositionen für Kreativität.

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Mit Denkmustern brechen

»Die Fähigkeit, neue Ideen zu entwickeln […], ist eine Frage der Haltung und ob man Menschen ermutigt, die Dinge aktiv zu hinterfragen. Leider machen wir heute häufig das Gegenteil. Wir fordern, dass Menschen fehlerfrei und akkurat denken, und unterschätzen dabei, dass Kreativität immer darauf aufbaut, dass man mit Denkmustern bricht oder Denkschemata ungewohnt kombiniert. Das ist unbequem, aber der einzige Weg, um wirklich gute Ideen zu entwickeln. Konvergentes Denken kommt zwar dem menschlichen Grundbedürfnis nach Kontrolle, Ordnung und Orientierung entgegen, fördert jedoch auch Schwarz-Weiß-Denken. Mit Mustern zu brechen ist bestens dafür geeignet, neue Ideen zu finden. Musterbrecher sind keineswegs gegen alles, wie man ihnen in manchen Unternehmen vorwirft. Menschen kommen auf die Welt, ohne ein einziges Muster im Kopf zu haben. Deshalb können Menschen auch nahezu überall aufwachsen. Nach vielen Lebensjahren ist der Schädel allerdings mit unzähligen Mustern gefüllt.

Der Neurobiologe Gerald Hüther definiert Kreativität als Fähigkeit, in dem vorhandenen Wissenspool plötzlich Lösungen zu finden, wie sich Dinge auf zuvor für unmöglich gehaltene Weise verbinden. Damit dies gelingt, ist es notwendig, dem Gehirn freien Lauf zu lassen. Die Lust, Neues zu schaffen, kann sich nur entfalten, wenn sie nicht durch Normen und Richtlinien eingeschränkt. Der ehemalige Ministerpräsident von NRW Jürgen Rüttgers sagte einmal: »Bill Gates wäre in Deutschland allein deshalb gescheitert, weil nach der Baunutzungsordnung in einer Garage keine Fenster sein dürfen.« (gutezitate.com)

Die Meinung, Kreativität hat man oder eben nicht, ist falsch. Kreativität kann man lernen. Neugier und Kreativität der Mitarbeiter zu fördern, ist eine Führungsqualität, die eine richtungsweisende Grundlage für eine erfolgreiche Zukunft legt.

Neugier und Wissensdurst aktivieren das Belohnungszentrum

Der US-Neurowissenschaftler Kirk R. Daffner machte in den Neunzigerjahren einen ungewöhnlichen Test. Einer Gruppe von Rentnern zeigte er merkwürdige Zeichnungen von Tieren. Die einen waren neugierig, was die Gebilde darstellen sollten, andere interessierte sich nicht dafür. Wie der Studienleiter feststellte, waren diejenigen, die sich gleichgültig zeigten, an Demenz erkrankt. Es dürfte wenig überraschen, dass demente Patienten eine geringere Aufmerksamkeit der Welt gegenüber aufbringen. »Aber könnte der Zusammenhang auch umgekehrt gelten?«, fragte der Wissenschaftler. »Könnte es also sein, dass nicht einfach die Erkrankung die Patienten hat gleichgültig werden lassen, sondern dass sie vielmehr auch deshalb dement wurden, weil ihnen irgendwann in ihrem Leben – viele Jahre vor dem Ausbruch des Hirnleidens – die Neugier abhandenkam?« (GEO kompakt 2015)

Wollen wir etwas wissen, wird das Belohnungszentrum im Gehirn aktiviert. Und wenn wir etwas Neues gelernt haben, werden wir mit einem Glücksgefühl belohnt. Das wiederum hält jung! Sprudelnde Kreativität und geniale Ideen entstehen also nicht in einem Superhirn, sondern sind das Resultat einer gehirngerechten, für Neues offenen Grundhaltung inklusive einer gehörigen Portion Neugier.

Was können wir tun?

#1 Sie sind nicht kreativ?

Vergessen Sie es! Vergleichen Sie sich mit sich selbst statt mit anderen! Blicken Sie auf Ihre eigenen Lernkurven. Machen Sie kleine Übungen: Kochen Sie sich eine Mahlzeit mit von Ihnen zusammengestellten Zutaten. Fehlt eine Zutat? Dann überlegen Sie sich eine Alternative! Sie wollen eine Präsentation vorführen? Die Technik spielt nicht mit. Überlegen Sie, wie Sie Ihre Kernbotschaften anders präsentieren können.

#2 Denkmuster überwinden

Überprüfen Sie eingefahrene Denkmuster und arbeiten Sie bewusst dagegen. In welchen Situationen reagieren Sie immer wieder »automatisch«, welche Handlungen passen nicht mehr in die Zeit?

#3 Wenn-dann-Regeln hinterfragen?

Wenn etwas Bestimmtes passiert, dann reagiere ich immer gleich. Hinterfragen Sie diese Reaktionen und ändern Sie sie, wenn es sinnvoll erscheint.

#4 Kreativität braucht Ruhe

Versuchen Sie nicht, unter Druck in hektischen Momenten und mal »zwischendurch« etwas Neues auszuprobieren oder kreativ zu sein.

#5 Bleiben Sie neugierig und zeigen Sie ernsthaftes Interesse an Ihrem Gesprächspartner!

Fragen Sie Menschen in Ihrer Umgebung, was sie tun. Drücken Sie Interesse an der Person aus. Verzichten Sie darauf, den Eindruck zu erwecken, dass Sie Schnüffler sind, vermeiden Sie geschlossene Fragen. Halten Sie Blickkontakt.

#6 Geistesblitze entstehen einfach so

Geistesblitze kann man nicht erzwingen, das Gehirn benötigt hierfür das Ruhenetzwerk. Aktivieren Sie Ihr Ruhenetzwerk, indem Sie nichts tun, in Tagträumen aufgehen und Ihre Gedanken fliegen lassen.


Der Autor:

Michael Kühl-Lenjer verknüpft langjährige Vertriebs-, Führungs- und Trainingserfahrungen mit aktuellen Erkenntnissen der Gehirnforschung. Als Business-Trainer und Kommunikationsberater unterstützt er Unternehmen und Ausbildungsinstitute dabei, neurowissenschaftliche Aspekte in ihre Aus- und Weiterbildung einfließen zu lassen. Michael Kühl-Lenjer ist Mitglied in der Akademie für neurowissenschaftliches Bildungsmanagement (AFNB) und bezieht seine neurobiologischen Kenntnisse direkt von Wissenschaftlern. » https://www.kuehl-lenjer-training.de

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